Dienstag, 28. Dezember 2021

Richard Kaufmann: Landreisen

Reisen ohne Ziel

Ich bin schon als Kind gerne verreist: Auf dem Rücksitz des Geschäftswagens meines Großvaters oder zusammen mit der Oma im Abteilwagen des TEE. Da konnte man der Landschaft beim Vorbeiziehen zuschauen. Wenn es doch mal langweilig wurde, wurde gespielt oder gelesen: Kinderbücher und das Lustige Taschenbuch. Zumindest im Zug. Im Auto ist mir beim Lesen immer schlecht geworden. Später sind wir dann auch geflogen. Das war ein Abenteuer! Die Piloten galten in ihren schmucken Uniformen noch als Superstars der Lüfte, die Stewardessen waren so etwas wie Supermodels, nur näher. Da habe ich mir schon als Sechsjähriger die Augen aus dem Kopf gestaunt, so schön waren die. 

Mit zunehmender Häufigkeit des Fliegens nahm die Größe der überbrückten Entfernungen zu und seine Faszination ab. Waren es zunächst nur kleine Hüpfer von Düsseldorf nach Zürich - man landete immerhin in der gleichen Klima- und Zeitzone, in der man auch gestartet war - so wurden es später größere Sprünge nach London, Athen oder Istanbul, nach Neapel, Amman oder nach Reykjavik. Mit zunehmender Entfernung der Ziele störte mich mehr und mehr, dass der Körper nach der Landung zwar angekommen, die Seele aber noch Zuhause war. In Arecife noch darüber nachzudenken, ob man in Zwickau der Herd ausgemacht hat, oder in Amman, ob man den Katzen in Remagen zum Abschied noch eine Dose Futter hingestellt hat, fühlt sich merkwürdig an und stört das Erkunden bisher unbekannter Kulturen und Landschaften. Es geht einfach zu schnell mit dem Flieger. 

So waren meine aufregendsten Reisen (gemeint sind jetzt die Bewegungen zum Reiseziel hin oder vom Reiseziel wieder zu einem vorher angepeilten Fixpunkt) immer die, bei denen mir die eigentliche Fahrt die Zeit gelassen hat, mich zu akklimatisieren und mich auf das Reiseziel einzustellen (bzw. davon Abschied zu nehmen). In meinem Kopf sehe ich mich mit einem Freund zusammen in das damals noch eingemauerte Berlin reisen. Im Winter und per Anhalter. Das war eine Reise! Da haben wir alleine auf der Hinfahrt mehr Leute kennengelernt und Abenteuer überstanden, als manche Menschen während einer vierwöchigen Kreuzfahrt. Unvergessen auch die Busreise von Athen zu einer Kleinstadt auf der Pelepones: Wir sind einfach morgens am Busbahnhof aufgeschlagen, und haben den ersten Bus genommen, für den wir noch drei Karten ergattern konnten. Ausgestiegen sind wir jeweils an der Endhaltestelle. Dort haben wir uns ein Zimmer gesucht und einen oder zwei Tage verbracht. Dann ging es wieder weiter mit dem Bus, kreuz und quer über die Halbinsel. So habe wir für eine kurze Entfernung fast 14 Tage benötigt, aber was für eine Reise!

Geflogen bin ich dann privat zunehmend widerwillig und schließlich überhaupt nicht mehr. Vor ein paar Jahren musste ich noch einmal aus dienstlichen Gründen nach Barcelona fliegen, aber das hat alle meine Vorurteile bestätigt und sogar noch verstärkt. Ich werde nie wieder fliegen. Schon aus ökologischen Gründen.

Viele meiner KollegInnen werden nach ihrer Pensionierung zu Weltenbummlern. Endlich können Reiseangebote außerhalb der hochpreisigen Schulferien gebucht werden, endlich kann man die Sehnsuchtsorte besuchen, die einem bisher schlicht zu teuer waren. Und auch mich juckt es, nach dem Eintritt in den Ruhestand noch ein paar Orte zu besuchen und Routen zu absolvieren, die ich immer schon sehen oder wiedersehen wollte. Mein geliebtes Berlin zum Beispiel habe ich das letzte Mal vier Wochen vor dem Mauerfall besucht und dann sträflich vernachlässigt. Nach Hamburg zieht es mich. Nach Rom oder Wien. Und warum nicht einfach mal nach Düsseldorf? Die Schauinsland-Straße hinter Freiburg soll einmal die Reifen meines Moppeds schmecken. Die alte Gotthard-Passstraße ruft nach mir. Am Freddie-Mercury-Denkmal in Montreux möchte ich einen Blumenstrauß hinterlassen. Das Ahrtal wiedersehen - meine alte Heimat. 

Und genau da setzt das Buch von Herrn Kaufmann an: Es ist ein flammendes Plädoyer für das Reisen ohne Flugzeug und Zeitdruck. Für eine Art zu Reisen, bei der die Strecke genau so wichtig ist, wie der Aufenthalt am Ende der Strecke. Vielleicht sogar noch wichtiger. Es ist wunderschön geschrieben - der Mann kann mit Sprache umgehen - und sehr persönlich. Es ist kein Reiseführer, aber es führt einen wieder an eine Art des Reisens heran, die den Namen verdient.


Ein tolles Buch! Unbedingt lesen und zwar sofort!

Donnerstag, 18. November 2021

Dr. med. Carola Holzner: Eine für alle

Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit

Da steht sie auf dem Buchcover: Im grünen Arbeitskittel der Ärzte und den klaren Blick auf die Kamera gerichtet, ein Stethoskop als Attribut ihrer Zunft lässig um den Hals geschlungen, die tätowierten Arme entschlossen vor dem Oberkörper verschränkt. Ein Bild, dass man so auch auf Instagram oder einem anderen Social Media-Kanal veröffentlichen könnte. Und das ist kein Zufall: Dr. Holzner veröffentlicht seit einiger Zeit kurze Videoclips aus dem Alltag einer Notärztin. So wurde sie als "Doc Caro" bekannt und erreichte eine erstaunliche Reichweite. 

Erstaunlich?

Wenn man bedenkt, welch direkte Sprache sie für ihre sehr klaren Botschaften verwendet, dann ist das in der Tat erstaunlich. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und nutzt ihre Reichweite, um uns die unbequeme Wahrheit um die Ohren zu hauen: "Mach mit deinem Körper dieses und jenes, dann hat das Folgen, und die sehen so und so aus. Nicht "vielleicht", sondern "ganz sicher". Und am Ende landest du bei mir im Notarztwagen, und das hat unappetitliche Konsequenzen. Dann muss ich nämlich folgendes mit deinem Körper machen..." Manchmal braucht es einfach klare Worte.

In ihrem Buch lässt sie aber auch die menschliche Seite ihres Tuns nicht aus. Sie schildert in berührender Weise, was das mit dem Menschen Carola Holzner macht, wenn sie einen Patienten verliert. Oder wenn sie andere Missstände bemerkt, gegen die sie letzten Endes nichts ausrichten kann. 

Nur so viel: Ich musste mir mehrfach beim Lesen dieses Buchs feuchte Augen verkneifen, fühlte mich auch ertappt und habe prompt alte Gewohnheiten über Bord geworfen. 

Ein gutes und wichtiges Buch! Lesen!

Sonntag, 24. Oktober 2021

Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif

In diesem 39. Abenteuer unserer Gallischen Helden wird's exotisch. Nachdem in den vergangenen 38 Bänden bereits die ganze bekannte Welt der Antike (und noch etwas mehr) abgeklappert wurde, geht es jetzt ganz weit in die Steppen Mittelasiens. Dort lebte das Volk der Sarmaten, über die man heute fast keine gesicherten Erkenntnisse besitzt. Das eröffnet Raum für phantastische Spekulationen. 

So schicken sie in dieser Geschichte, den Amazonen gleich, ihre Frauen in den Kampf und die Männer hüten derweil die Kinder und das Haus. Allein diese bemerkenswerte gesellschaftliche Konstellation ist schon für sich genommen Stoff für so manch komische Situation, doch auch die...
Augenblick mal! Das Heft hat ja nur 48 Seiten, ich erzähle hier also die Handlung nicht an.

Der Asterix-Stern ist noch nicht erloschen, er leuchtet vielmehr wieder etwas heller. Das neue Autorengespann arbeitet, obwohl durch den Atlantik getrennt, Hand in Hand zusammen. Es entsteht eine stimmige Handlung aus dem Asterix-Universum. Lieb gewordene Stereotypen werden weitergesponnen, neue entwickelt. Auch auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wird, wie immer mit ironischem Augenzwinkern, gerne geschossen. Monsieur Conrad zeichnet ganz im Stil der Erfinder der Reihe, doch scheinen mir seine Entwürfe durch ungewohnte Perspektiven etwas dynamischer zu sein als die Originale. Auch die gezeichneten Landschaften wirken auf mich etwas opulenter und fast plastisch. Es wird ein eigenständiger Zeichenstil erkennbar, ohne dass Conrad zu sehr vom Vorbild abweicht. Mir gefällt das sehr gut.

Sehr zu empfehlen!

Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

Montag, 18. Oktober 2021

Beate Knappe: Bestandteil


Stück vom Ganzen

Frauen in Chemnitz/DDR

Wie war das noch, im Jahr 1990 in Deutschland? Die Mauer war gefallen, der Ostblock und damit der Kalte Krieg lösten sich langsam auf. Wir alle waren besoffen vor Glück. Es gab sie noch, die DDR. Selbstbewusst wählte man im zweiten deutschen Staat eine demokratisch legitimierte Regierung, trug die Mauer und den Todesstreifen ab und benannte Karl-Marx-Stadt wieder in Chemnitz um. Es war noch nicht abzusehen, wie klein das Zeitfenster für eine Wiedervereinigung Deutschlands sein würde, wie groß die Sachzwänge und wie begrenzt die Handlungsoptionen. Es herrschte Aufbruchstimmung!

Die junge, aber in der Reportagefotografie durchaus erfahrene Fotografin Beate Knappe reiste ins zweite Deutschland, um dort das Leben von Frauen zu dokumentieren. Hier wurde schließlich längst gelebt, was im Westen noch lange nicht in jedem Bereich selbstverständlich war: Gleichberechtigung. Aber stimmte das wirklich? Beate suchte Frauen an ihren Arbeitsplätzen auf, aber auch im Privaten. Die skeptische Sichtweise der Fotografin wird bereits auf den ersten Bildern deutlich: Bald findet sich das Bild einer Eingangstüre zu einer erotische (pornografischen?) Video-Show, dann ein sauber aufgeräumter Büroarbeitsplatz mit einem großen Frauenaktbild an der Wand. Das Poster ist nicht unbedingt geschmacklos, aber heute würde man mit Sicherheit daran Anstoß nehmen. Es folgen zahlreiche, einfühlsame Fotografien von Frauen in den verschiedensten Situationen. 

Ich halte dieses Buch für ein besonders gelungenes Dokument der Zeitgeschichte. Man sollte immer im Kopf behalten, dass es ihn einst gab, diesen zweiten deutschen Staat, in dem so vieles gleich war, und doch vieles so unterschiedlich. 

Leider nur noch antiquarisch zu erhalten. Wem sich die Gelegenheit bietet: Zuschlagen! Ein gutes und wichtiges Buch.


Mittwoch, 13. Oktober 2021

Gerhard Hofmann: Kunigunde Kirchner

Auf den Spuren einer Legende

In Neustadt habe ich mehrere Jahre in der Kunigundenstraße gewohnt. Alter Fachwerkbestand, Dachgeschoss - schön. Wenn ich an Samstagen morgens länger zu schlafen versucht habe, wurde ich nicht selten geweckt von den kräftigen Stimmen der Stadtführer, die den Touristengruppen mein schönes Neustadt gezeigt und erklärt haben. Die Kunigundenstraße war wohl bei jeder Führung eine wichtige Station, denn hier soll sie auf die Welt gekommen sein, die Heldin von Neustadt. Kunigunde Kirchner soll während der Erbfolgekriege als blutjunges Ding die Stadt vor der Vernichtung durch französische Truppen bewahrt haben. Und zwar auf ebenso anrührende wie effektive Weise. Vor dem Kommandeur der feindlichen Armee Johann Peter de Werth soll sie auf die Knie gefallen sein mit der eindringlichen Bitte um Verschonung ihrer Stadt. Dieser soll angesichts der Schönheit der damals 15jährigen derart ergriffen gewesen sein, dass er nicht nur der Bitte nachkam, sondern auch gleich noch die edle (wenn auch bürgerliche) Jungfer geehelicht und heim ins Frankenland geführt haben soll. Soweit die Legende, die ich im Schlafzimmer meiner Dachwohnung in der Kunigundenstraße jeden Samstag gehört habe. In den verschiedensten Sprachen und Versionen.

Doch was ist dran an der Geschichte? Handelt es sich bei Kunigunde Kirchner um eine historisch belegbare Person? (Spoiler: Ja) Hat der Kniefall der Kunigunde tatsächlich Neustadt vor der Einäscherung bewahrt? (Spoiler: Nein, aber das hat ja wohl auch niemand ernsthaft erwartet.)

Der geschichtsinteressierte Neustadter Künstler Gerhard Hofmann trägt in seiner Festschrift zum 350. Geburtstag der Heimatlegende historische Fakten zum Thema zusammen. Er sichtet und bewertet Urkunden, Zeitungsartikel und künstlerische Darstellungen aus mehreren Jahrhunderten und beleuchtet so die Geschichte des Raums aus einer ganz besonderen Perspektive. 


Das Ergebnis seiner Nachforschungen ist alles Andere als eindeutig, aber so ist das halt in der Wissenschaft: Wenn man irgendein Problem abschließend lösen könnte, dann könnten wir den Laden gleich dicht machen.

Ein überaus interessantes kleine Büchlein. Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

Sonntag, 3. Oktober 2021

Beate Knappe: ...der Angst die Haare vom Kopf fressen!

Dieses Buch von Beate kommt nicht so wuchtig daher, wie das über ihr Lebenswerk. Großformatig zwar, hochwertiger Druck, aber eher ein schlankes Heft. 

Es dokumentiert eines ihrer faszinierenden Fotoprojekte der letzten Jahre: An Brustkrebs erkrankte Frauen rasieren sich kurz vor Beginn der Chemotherapie den Kopf, um nicht dem Krebs den Triumph zu gönnen, die Haarpracht gestohlen zu haben. Beate begleitet die Frauen auch später noch als Fotografin, so entstehen erschütternde Einsichten in das Leben von mutigen, teilweise auch todgeweihten Menschen.

Ich habe beim Anblick der Bilder aus dieser Serie mehr als einmal Rotz und Wasser geheult. Sie sind unfassbar schön, obwohl sie entsetzliche Geschichten erzählen, furchtbare Schicksale widerspiegeln. Krebs ist ein Arschloch, und er hat mir schon viel zu viele liebe Menschen aus meiner Umgebung geraubt. Und er tut es immer noch. Es ist an der Zeit, dieser Geißel der Menschheit endlich die Stirn zu bieten. Biontech: Ich zähle auf euch!

Ein tolles Buch, das zu betrachten ich dringend empfehle. Wer Zeit und Gelegenheit hat, sollte die Ausstellung besuchen. Sie ist vom 2. 10. bis zum 24. 10. 2021 zu sehen, in der Oststrasse 118 in Düsseldorf.
Und hier noch ein Bilderpaar, das Beate großzügig über Facebook geteilt hat und das mich ganz besonders berührt hat:
© Beate Knappe

Dienstag, 14. September 2021

Michael Geiger (Hrsg.): Haardt und Weinstraße


Ein Geo- und Bild-Führer

Was Michael Geiger im Jahr 2016 im Verlag Pfälzische Landeskunde veröffentlicht hat ist nicht mehr und nicht weniger als eine wissenschaftliche Länderkunde meiner Wahlheimat. Ein ganzes Autorenteam aus kenntnisreichen Spezialisten stellt hier die Pfalz aus ihrer jeweiligen Fachperspektive dar. Naturraum, Kulturraum und Kunst: So geht das in der Geographie! Mit großem Vergnügen habe ich in meiner Eigenschaft als Nerd dieses Buch verschlungen und genossen. Man sollte es als Schulbuch im Erdkunde-Leistungskurs einführen!

Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

Freitag, 10. September 2021

Nick Reimer, Toralf Staud: Deutschland 2050

Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Ich beschäftige mich seit über 40 Jahren intensiv mit den bevorstehenden und bereits eingetretenen Klimaveränderungen. Als inzwischen studierter Geograph und Biologe habe ich beste Voraussetzungen, um hier auch die wissenschaftlichen Hintergründe zu verstehen. Ursachenforschung, Klimageschichte, Kippelemente, Meeresspiegelanstieg und Verkehrspolitik gehörten zu meinen Interessen. Und sogar mit der fernen Zukunft - also der Welt nach einer Klimaerwärmung in einigen Zehntausend Jahren habe ich mich auseinandergesetzt. Science-Fiction Literatur wie zum Beispiel Herbert W. Frankes „Endzeit“ gehörten zur Pflichtlektüre. Worüber ich bisher nur oberflächlich nachgedacht habe ist, was wir in der nächsten Zukunft, also in den kommenden Jahrzehnten, tun müssen, um uns auf den nicht mehr aufzuhaltenden Klimawandel vorzubereiten. Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Städtebau, Küstenschutz und Wohnungsbau müssen völlig umgekrempelt werden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wir müssen Unsummen investieren, um uns vorzubereiten auf das, was wir nicht mehr verhindern können. Und weitere Unsummen müssen investiert werden, um das Unaufhaltsame wenigstens soweit abzubremsen, dass die Anpassungsmaßnahmen nicht noch viel teurer und noch viel unbezahlbarer werden. Für dieses Buch tragen die Autoren ganz methodisch und systematisch Studien zusammen, zum Beispiel von großen Rückversicherern, der BASF, Stromversorgern, Verkehrsbetrieben und so weiter. Also Industrie- und Wirtschaftsvertretern, die nicht gerade in dem Ruf stehen, Klimahysterie zu verbreiten. 

Das Ergebnis ist erschreckend: Wir sind nicht nur am Arsch, das wird auch noch richtig, richtig teuer.

Lesen, und zwar unbedingt und sofort

Freitag, 13. August 2021

Silvana Condemi, François Savatier: Der Neandertaler unser Bruder

300.000 Jahre Geschichte des Menschen

Das Bild welches in den Büchern meiner Kindheit vom Neandertaler gezeichnet wurde, war das eines tumben Toren, der nur primitive Werkzeuge erschaffen konnte und des Sprechens nicht mächtig war. Dieses Bild konnte bis heute gründlich falsifiziert werden. Homo sapiens neandertalensis war ein geschickter und anpassungsfähiger Jäger und Sammler, der sich im eiszeitlichen Europa und angrenzenden Gebieten über 300.000 Jahre behaupten konnte, bevor der Kontakt mit Homo sapiens sapiens schließlich seinen Niedergang einläutete. 

Dieses gut lesbare Buch fasst aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema zusammen und stellt auch klar, dass unsere Brüder und Schwestern in uns weiterleben. Bevor sie vom Angesicht der Erde verschwanden haben sie sich nämlich mit unseren Vorfahren vermischt. Etwa ein Drittel des ursprünglichen Neandertalergenoms hat so überdauert, in jedem von uns schlummern so ein bis vier Prozent davon. 

Einzig die Tatsache, dass bei der Übersetzung einige Fachbegriffe ungenau ins Deutsche übertragen wurden, trübt den Lesegenuss. Aber das ist wirklich auf hohem Niveau genörgelt.

Lesen, und zwar unbedingt und sofort.

Dienstag, 3. August 2021

Snežana Šimičić, Stephan Fennel: Biker-Weekends Nachbarländer

Unterwegs auf Insidertouren der Biker Wirte 

Dieser Reiseführer aus dem TVV Touristik Verlag wurde mir vor ein paar Tagen als verspätetes Weihnachtsgeschenk überreicht - Weihnachten im Kreis der Lieben ist ja wegen Corona ausgefallen. Und ja, ich weiß: Ich sollte nicht über ein Buch schreiben, das ich nicht von vorne bis hinten gelesen habe. Aber bei Kochbüchern und Reiseführern erlaube ich mir gelegentlich auch Ausnahmen. Die liest man, wenn man sie braucht, nicht aber schon im Vorfeld.

Das Buch gliedert sich in genau so viele Kapitel, wie Deutschland Nachbarländer hat. Für jedes Nachbarland werden ein oder zwei bikerfreundliche Hotels als Basislager vorgeschlagen und von dort ausgehend jeweils zwei oder drei Tagestouren. Dabei wird nicht nur Landschaft und Streckenführung aus der Sicht eines Motorradfahrers beschrieben und bewertet, es gibt auch noch viele Hinweise für kulturelle oder technische Sehenswürdigkeiten. Langweilig wird es auf diesen Routen also ganz sicher nicht. Die Routen kann man sich beim Verlag für die verschiedensten Navigationssystem herunterladen und sogar editieren. Das scheint mir auch notwendig, denn mit zwei- bis dreihundert Kilometern sind die Touren für meinen Geschmack fast schon zu lang. Ich lasse es auf dem Bock gerne ruhig angehen. Aber das ist jetzt auf sehr hohem Niveau genörgelt. Ein tolles Buch!

Lesen!

Montag, 2. August 2021

Joachim Kahl: Das Elend des Christentums


oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott

Im Jahr 1968 erreicht der blutjunge Kahl seinen Doktorgrad in Theologie. Er tritt danach sofort aus der Kirche aus und schreibt über diesen für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Vorgang ein Buch. Dieses veröffentlicht er in einem kleinen Verlag, der kurz darauf in den Konkurs geht. Glück im Unglück: Der Bastei-Verlag nimmt sich der Konkursmasse an, und so landet Kahls Werk als Paperback in den Bahnhofsbuchhandlungen. Etwas Besseres hätte ihm nicht passieren können. Das Buch erreicht Rekordauflagen und entwickelt sich zu einem Grundlagenwerk der 68er-Bewegung.

Herr Kahl erliegt nicht der (naheliegenden) Versuchung, die Kirchengeschichte nach den reichlich vorhandenen Gräueltaten abzuklappern. Hexenverbrennung, Kreuzzüge, Inquisition oder Kindesmissbrauch wären denkbare Ziele einer solchen Strategie. Er zeigt vielmehr strukturelle Probleme auf. Die angesprochenen Probleme sind nicht Verfehlungen im Einzelfall, sie lassen sich vielmehr direkt aus den „heiligen“ Schriften ableiten und damit begründen. Deshalb enthält das letzte Kapitel auch ein flammendes Plädoyer für eine humanistisch geprägte Welt mit einer nicht durch irgendeinen Gott zur begründenden Moral.

Ein wichtiges und lesenswertes Buch!

Samstag, 17. Juli 2021

Ralf König: Lucky Luke - Zarter Schmelz

Lucky Luke, der Mann, der schneller zieht als sein Schatten, wird 75. Unfassbar! Ralf König zeichnet zu diesem feierlichen Anlass eine Hommage an den Comic-Klassiker des Belgiers Morris. Viele aus diesem und anderen Zusammenhängen bekannte Figuren des Wild-West-Genres geben sich ein Stelldichein. Liebevoll werden Macho-Klischees auf den Arm genommen und bekannte Spielfilme zitiert. Der Zeichner setzt sich ganz nebenbei mit den Sorgen und Nöten von gleichgeschlechtlich Liebenden in einem heterosexuell geprägten Umfeld auseinander, aber auch mit ihren Freuden und emotionalen Highlights. Schöne Natur kommt auch vor und ungewöhnlich gefärbte Kühe. Nur so nebenbei: Der Jubilar sieht für seine 75 Lenze noch immer verdammt gut aus. Und wir erfahren endlich, warum er trotz seiner Schönheit der „poor lonesome cowboy“ ist und auch immer bleiben wird.


Ich werde den Teufel tun, und hier die Handlung  eines Comic-Buchs anerzählen. Das müsst ihr schon selber lesen, denn ich empfehle es uneingeschränkt.


Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

Sonntag, 4. Juli 2021

Barack Obama: Ein verheißenes Land

Dass ein Staats- oder Regierungschef nach dem Ende seiner Amtszeit die Ereignisse während seiner Regierungszeit aus seiner Perspektive darstellt, ist meines Erachtens noch nichts Besonderes. Anders sehe ich das bei diesem Mann. Solange ich denken kann hat kein amerikanischer Präsident so viele Hoffnungen geweckt wie der Vierundvierzigste, keiner hat bei seinen Gegnern ähnliche Ängste allein durch seine bloße Existenz hervorgerufen und gegen keinen anderen mir bekannten US-Präsidenten wurden bislang eine derart hemmungslose Schmutzkampagnen geführt.

Er schildert den Ablauf des Wahlkampfs und die wichtigsten Ereignisse seiner zwei Amtsperioden, er zeigt auf, welche Opfer seine junge Familie bringen musste und erläutert die Sachzwänge, welche ihm in seiner Amtszeit Kompromisse abnötigten oder die Erfüllung von Wahlkampfversprechen gar unmöglich machten. 

Dieser Blick hinter die präsidialen Kulissen erweist sich als äußerst lehrreich und lässt sich wohl - in abgewandelter Form - auch auf die Regierenden in Europa übertragen. Einmal mehr wird mir klar, dass ich als Schulmeister genau den richtigen Beruf gewählt habe. Nie und nimmer möchte ich mit einem Politiker tauschen müssen. 

Lesen, und zwar unbedingt und sofort.

Freitag, 4. Juni 2021

Lena Greiner, Carola Padtberg: Verschieben Sie die Deutscharbeit - mein Sohn hat Geburtstag


Von Helikopter-Eltern und Premium-Kids

Die Autorinnen betreiben eine Kolumne zu diesem Thema auf Spiegel-Online und haben in diesem Buch vieles zusammengestellt, was einen Pädagogen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lässt. 

Und ja: Diese Art Eltern gibt es wirklich. Ich sehe sie täglich, wie sie mit ihren dicken SUVs die Kinder direkt gegenüber der Schultüre in der unübersichtlichen Kurve (im absoluten Halteverbot) aussteigen lassen und damit ihre lieben Kleinen ebenso gefährden wie andere Verkehrsteilnehmer. Sie tragen ihren Kindern die Schulranzen bis ins Klassenzimmer oder sitzen im Schulflur herum und warten auf die nächste Pause, um ihren Schützling den vergessenen Turnbeutel zu bringen. Und dabei ist diese Gattung, nennen sie wir einfach "Transporthubschrauber", noch die harmlosere Variante. Viel anstrengender sind die Kampfhubschrauber: Sie kreisen in der Nähe und stürzen sich auf jeden, der ihren Ablegern vermeintliches Unrecht tut. Niemand ist vor ihren Angriffen sicher: Nicht Mitschüler, nicht deren Eltern und schon gar nicht Lehrer*innen. Egal ob sie eine Note oder eine pädagogische Maßnahme ungerecht finden, stets drohen sie mit dem Anwalt (bzw. sind selber Juristen) oder mit ihren guten Beziehungen zu Politik und Verwaltung. Es wundert nicht, dass solche Kinder oft völlig unzugänglich für unser pädagogisches Handeln sind. Und dann gibt es noch die Rettungshubschrauber, die jede Gefahr von ihren Zöglingen abwenden wollen. Sie gehen beim Wandertag mit, selbstverständlich bewaffnet mit allerlei Lebensmitteln, Getränken und einem Erste-Hilfe-Set. Sie fahren mit auf die Klassenfahrt, kampieren gar im Wohnmobil vor der Jugendherberge, nur für den Fall, dass der liebe Kleine Heimweh bekommt. Und wenn es denn soweit ist, nehmen sie Quartier im Haus und nächtigen neben ihrem Kind. Das waren übrigens alles Beispiele, die ich NICHT dem Buch entnommen habe, sondern meinen eigenen Berufserfahrungen.

Die stetige Zunahme dieses Phänomens ist einer der Gründe, warum ich mit dem Gedanken spiele, vorzeitig aus dem Berufsleben auszusteigen. 

Wer das verstehen will, sollte das Buch lesen.

Samstag, 29. Mai 2021

Line Nagell Ylvisåker: Meine Welt schmilzt


Wie das Klima mein Dorf verwandelt

Was die Journalistin Ylvisåker vorlegt, erhebt nicht den Anspruch, ein wissenschaftliches Werk zu sein. Tatsächlich enthält es sogar kleinere fachliche Fehler. Aber das schmälert aber nicht den hohen Wert dieses Buches. Sie schildert als Beobachterin und Betroffene schlicht, was sie sieht, fühlt, erlebt. In Longyearbyen auf Spitzbergen. 

Sie beschreibt, wie die Häuser ihrer Nachbarn im ursprünglich recht trockenen Longyearbyen von Schneelawinen zerquetscht werden. Sie erzählt von auftauendem Permafrostböden und Bergstürzen, die sich daraus ergeben, dass das Erdreich jetzt eben nicht mehr an Bergflanken festgefroren ist. Sie Berichtet von Eisbären, die durch ihr Dorf streifen, weil die für deren natürliche Ernährung wichtige Eisflächen auf dem Meer verschwinden. Wetterlagen, die es auf der Insel im hohen Norden so noch nie gegeben hat, Fjorde, die im Winter nicht mehr zufrieren, Meeresströmungen, die sich verändern. 

Ein gutes Buch.

Lesen, und zwar unbedingt und sofort.

Samstag, 22. Mai 2021

René Goscinny, Albert Uderzo: Asterix kütt nohm Kommiss


Ja, Sie haben richtig gelesen. Das Buch trägt tatsächlich diesen Namen. Der Egmont-Verlag ist offensichtlich sehr aufgeschlossen gegenüber mundartlichen Neuübersetzungen der Comic-Klassiker aus Frankreich und hat diese schon in viele deutsche Idiome übertragen lassen. Für die Übersetzung von "Asterix als Legionär" ins Kölsche zeichnet die Kölner Journalistin Vera Kettenbach verantwortlich. Mitgearbeitet haben außerdem Cornelia Scheel und Hella von Sinnen. Das gelingt mit sehr viel Humor und mit viel Liebe zum (sprachlichen) Detail. Obschon ich die Geschichte natürlich seit meiner Kindheit auswendig kenne, hat mir der Sprachwitz dieser Neufassung so manchen Lacher entlockt.

Für mich ist dieses Buch auch eine Art sprachliche Heimatkunde. Meine Dialektkompetenz ist zwar sehr gering, bin ich doch in einem Hochdeutsch sprechenden Haushalt aufgewachsen, aber die Klangfarbe dieser wunderbare Mundart erinnert mich an Kindheit und Heimat. 

Sehr zu empfehlen.

Lesen, und zwar augenblicklich und unbedingt!

Sonntag, 16. Mai 2021

Ralf König: Vervirte Zeiten


Konrad und Paul sind wieder da. In Corona-Zeiten hocken sie zwangsläufig enger aufeinander als sonst und gehen sich ein klein Wenig auf die Nerven. Paul erledigt auffällig gerne die Einkäufe. Gelegentlich vergisst er auch schon mal etwas, dann muss er noch einmal los. Der Filialleiter vom REWE-Markt an der Subbelstraße hat es ihm angetan. Pauls Vater entdeckt im Altersheim unterdessen die Freuden des Cannabiskonsums, über Skype erfährt man, welcher von Pauls Kumpels völlig verlottert und Paul zieht sich die Nippel lang. Konrad benimmt sich wie immer würdevoller.

Der Autor hat diese in sich abgeschlossenen Comicstrips aus jeweils nur vier Bildern wohl anfangs nur gezeichnet, um sich während des Lockdowns die Zeit zu vertreiben. Dankenswerterweise stellte er sie auch kostenlos auf Facebook zur Verfügung und hat so seinen Teil dazu beigetragen, während des langen Ausnahmezustands meine geistige Gesundheit zu erhalten. So gab es jeden Tag einen Grund, sich auf das Aufstehen zu freuen. Und immer wieder auch einen Lacher. Das hat sehr gut getan. Danke, Herr König.

Gerne unterstütze ich den Autor durch den Erwerb der gedruckten Fassung, zumal diese noch mit ein paar Extras aufgepeppt wurde.

Lesen, und zwar unbedingt und sofort.


Samstag, 15. Mai 2021

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen

aber wissen sollten

Morgens stehe ich gerne ein paar Minuten früher auf, als es eigentlich notwendig wäre.  Die gewonnene Zeit nutze ich, um mir beim Bäcker ein paar Häuser weiter einen Milchkaffee zu holen und ein frisches, noch dampfendes Croissant. Ich frühstücke dann stehend auf der Straße. Ich grüße die Jungs von der Straßenreinigung, die um diese Uhrzeit ihre Runde vor meinem Haus drehen und dabei lärmtechnisch einen gewaltigen Affenzirkus veranstalten. „Muss halt sein.“, habe ich irgendwann verstanden und bin deshalb gerne freundlich zu ihnen, obwohl ich Lärm vor dem Beginn der Wirkung des ersten Kaffees am Morgen nicht leiden kann. Die machen auch nur ihren Job, und der ist wichtig. Auch den Fleischermeister von schräg gegenüber grüße ich freundlich. Klingt etwas merkwürdig für jemanden der kein Fleisch isst, aber so sieht es aus: Der Mann ist mein Nachbar. Er ist ein hart arbeitender Handwerker, der eine Menge wichtiger Dinge verstanden hat und sich deshalb bewusst von der Massentierhaltung abgrenzt. Und deshalb freue ich mich, ihn zu sehen und grüße ihn. Während ich stehend und schlendernd mein Frühstück zu mir nehme, inspiziere ich die Schaufenster der umliegenden Geschäfte: Die zwei Metzgereien interessieren mich nicht so sehr, obwohl in einer davon tolle Werbefotos in Schwarzweiß hängen - die sehe ich mir dann doch ganz gerne an. Auch die schwarzweißen Werbefotos des Barbershops gegenüber sind ansehnlich und hier vertreibe ich mir gerne die Zeit. Und dann ist da noch diese Zuckerbäckerei! Oder sagt man Konditorei? Patisserie? Confiserie? Egal: Die machen hochwertigen Süßkram, der auch noch schön anzuschauen ist. Meinem letzten Abiturkurs habe ich dort Glücksschweine aus Marzipan gekauft und jedem Schüler während der letzten Klausur eines auf den Tisch gestellt. Toller Laden, tolles Schaufenster. Und dann sind da noch zwei Buchhandlungen: Die Niederlassung einer im Süddeutschen Raum verbreiteten Kette in meinem Haus, und zwei Häuser weiter der Bücherdealer meines Vertrauens. 

Und jetzt sind wir endlich beim Thema!

Dort ist mir dieses Buch immer wieder aufgefallen. Wegen des tollen Covers. Im Ernst! Ich fotografiere ja selber, layoute auch gelegentlich Drucksachen - mir fällt so etwas auf. Da hockt eine junge Frau - die Autorin - in einem türkisfarbenen Hosenanzug (?) vor einer weißen Wand. An den Füßen hat sie schwarze Schnürstiefel, die an militärisches Schuhwerk erinnern. 

Ihr Kinn ist auf ihre rechte Hand gestützt und sie schaut sehr eindringlich und ernst in die Kamera - also direkt in meine Augen.
 
Einem solchen Blick kann ich nicht ausweichen. Ein schönes Foto! Die Bildgeometrie ist genauso perfekt wie die Beleuchtung. Die Autorin kommt deshalb bestens zur Geltung. Der Titel des Buches ist farblich auf ihre Kleidung abgestimmt, der Untertitel auf den Schatten, den sie auf der Wand hinterlässt. Und der Name der Autorin passt farblich zu ihren Schuhen. Ich finde dieses Cover schön! Einzig der unerträglich hässliche „SPIEGEL Bestseller“-Aufkleber in Rot-orange stört. Ich sehe solche Details - sorry. Kann ich nicht ändern. 

Um dieses Buch bin ich lange herumscharwänzelt. „Rassismus? Ich bin kein Rassist. Was geht mich das an?“ Dachte ich und habe nicht weiter drüber nachgedacht.

Sie haben es auch gemerkt, oder? Ich drücke mich seit über einer Bildschirmseite um das eigentliche Thema „Rassismus“ herum. 

Um es kurz zusammenzufassen: Ich bin noch oft an dem Buch vorbeigegangen. Jedesmal schien mir der Blick der Autorin vorwurfsvoller und enttäuschter zu sein. Irgendwann habe ich es dann doch gekauft. „Dunkle Haut ist vermutlich so etwas Ähnliches wie mein verkackter Vorname. Damit gehen mir die Leute ja auch seit fast 60 Jahren auf die Nerven, obwohl es nicht meine Schuld ist, dass ich so heiße.“ dachte ich, als ich es öffnete. Aber diesen Zahn hat mir Frau Hasters direkt auf den ersten Seiten gezogen. Meinen Namen sieht man mir ja nicht an, deshalb kann ich jedem Konflikt damit ausweichen, indem ich ihn verschweige (was ich gelegentlich tue). Ich könnte einen Spitznamen benutzen (fand ich immer blöd) oder ihn sogar ändern lassen. Diese Optionen hat man bei der Hautfarbe nicht. Mir greifen nicht auf der Straße wildfremde Menschen in die Haare. Wegen meiner Anwesenheit wechselt auch niemand die Straßenseite (außer ich will es). Ich konnte mich auch immer vergleichsweise sicher an Orten bewegen, die ich mit einer anderen Hautfarbe niemals betreten würde. Ich werde auch im Zug nicht in schlechtem Englisch von einem Schaffner aufgefordert, augenblicklich die erste Klasse zu verlassen (ist meiner Landtagsabgeordneten mal passiert) sondern werde höchstens gefragt, ob ich noch einen Kaffee möchte. Dass ich als alter weißer Mann glaube, dass es in Deutschland keinen Altagsrassismus gibt, liegt nur daran, dass ich ihn selber nicht erlebe. Er ist überall. Sogar in meinem Kopf. Ohne, dass ich es gemerkt habe sind mir auch schon Dinge passiert, die ich im Nachhinein unglaublich peinlich finde: Ich habe Leute wegen ihres Aussehens in Schubladen gesteckt und dabei auch rassistische Vorurteile im Kopf gehabt. Oder mich unsensibel ausgedrückt, dumme Fragen gestellt und, und, und... 

Frau Hasters hat mich dafür sensibilisiert, auf so etwas in Zukunft mehr zu achten. 

Ich gelobe Besserung und empfehle dieses Buch ausdrücklich. Auch solchen Menschen, die glauben, nicht rassistisch geprägt zu sein. Lest es und ihr wechselt die Perspektive. 

Dienstag, 27. April 2021

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


Wahr, falsch, plausibel - die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft

An anschaulichen und plakativen Beispielen erklärt die Wissenschaftsjournalistin, wie wissenschaftliches Arbeiten und Denken funktioniert: Legalisierung von Drogen, Zusammenhang zwischen Videospielen und Gewalt, Gender Pay Gap, alternative Medizin, Impfsicherheit, Erblichkeit von Intelligenz, geschlechterspezifische Denkmuster und Tierversuche: Bei all diesen in der Gesellschaft heiß diskutierten Themen beruft man sich als Argumentationshilfe gerne auf wissenschaftlich Studien. Doch wie funktionieren eigentlich wissenschaftliche Studien? Was sagen sie aus, wenn man deren Methodik nicht kennt. Sie blickt mit uns hinter die Kulissen des Wissenschaftsbetriebs und hilft auch Laien, hier besser zu verstehen und einzuschätzen. Im letzten Kapitel des Buchs geht sie schließlich darauf ein, was wissenschaftlicher Diskurs und Irrtümer in der Wissenschaft bedeuten. Spoiler: Sie bringen uns voran.

Ein tolles Buch, welches ich jedem Schwurbelkopf und Aluhutträger zu lesen empfehle. Und allen Anderen natürlich auch.

Und zwar unbedingt und sofort!