Sonntag, 19. Juni 2022

Heribert Schwan, Tilman Jens: Vermächtnis

Die Kohl-Protokolle

Wir besprechen hier ein Buch, welches ich gleich zwei mal kaufen musste, bevor ich es vollständig lesen konnte. Es enthält nämlich zahlreiche Zitate, die aus über 600 Stunden Tonbandaufnahmen entnommen wurden, die in den Privaträumen des Altkanzlers bei Vorgesprächen zur Biographie des Staatsmanns mit seinem Ghostwriter entstanden sind. Die wörtliche Verwendung dieser Gespräche sollte, so war es vertraglich festgelegt und so ist es üblich, zunächst von Kohl autorisiert werden. Schwan entschloss sich jedoch, den Kohl-Protokollen ein eigenes Buch zu widmen und dabei die Zitate unabhängig von einer Autorisierung durch den Zitierten  zu verwenden. Er begründete das mit der zeitgeschichtlichen Bedeutung des Mannes, der über mehr als vier Legislaturperioden unser Land regiert hat. Ob man diesen Vertrags- und Vertrauensbruch gut findet, soll jeder für sich beurteilen. Und jetzt kommen wir zu dem Grund, warum ich das Werk zwei mal kaufen musste: In der zuerst erworbenen Ebook-Version waren die meisten wörtlichen Zitate unkenntlich gemacht worden. Nach der Erstveröffentlichung gab es einen längeren Rechtsstreit zwischen Kohl (bzw. seinen Erben) und den Autoren. Kurz und knapp: Die Zitate mussten geschwärzt werden. Nicht untersagt wurde jedoch der Verkauf und Vertrieb bereits ausgelieferter Exemplare. 

Da sich der kleine Adolf natürlich nicht vorschreiben lässt, ob er ein Buch in der zensierten oder in der unzensierten Version liest, habe ich mir aus diesen Beständen noch ein gedrucktes Exemplar der Erstauflage gesichert. Das Internet macht es möglich, und auf die paar Kröten, den Bimbes sozusagen, kommt es mir nicht an. Und damit haben wir dieses wundervolle pälzische Wort auch abgefrühstückt, das es dank Helmut Kohl sogar bis in den Duden geschafft hat.

Ich halte das unzensierte Werk für ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument. Es dient nicht dazu, den Altkanzler lächerlich zu machen oder seinen Ruf zu beschmutzen. Das Gegenteil ist der Fall: Es zeichnet das Bild eines klugen und gebildeten Mannes. Mit Ecken und Kanten zwar, aber im Großen und Ganzen ein Staatsmann mit Weitsicht und der Fähigkeit, auf der persönlichen Beziehungsebene auch mit ideologischen Gegnern viel zu erreichen. Wir hätten es schlechter treffen können.

Dringende Empfehlung meinerseits: Lesen, und zwar die Version ohne Schwärzungen. 

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