Mittwoch, 13. April 2022

Rayk Anders: Der Barbar in uns muss Liebe finden

Warum unser Land verroht und wie wir uns dagegen wehren können

Was der in Berlin lebende Journalist hier vorlegt ist nicht mehr und nicht weniger als eine brillante Analyse dessen, was in diesem Land grundsätzlich schief läuft. Und ich rede jetzt nicht von aus Versehen falsch ausgestellten Parkknöllchen oder vom Lehrer übersehenen Fehlern in der Mathematik-Klassenarbeit. Ich rede von den grundsätzlichen, von den unser Land, seine Kultur und seine Existenz bedrohenden Entwicklungen. In wenigen, aufeinander aufbauenden Thesen legt er den Finger in die Wunden und stellt klar, was zu tun ist. Dabei schreibt er eloquent, ironisch bis zynisch, bissig, aber immer sachlich fundiert und mit transparenter Dokumentation der verwendeten Quellen.

Bleibt noch anzumerken, dass das Lesen der von mir so geliebten Fußnoten auf einem Ebook-Reader ziemlich mühsam ist. Hier sollten sich die Verlage endlich mal etwas einfallen lassen. Kann doch nicht so schwer sein, das Vor- und Zurückblättern in den html-Code eines elektronischen Buches zu implementieren. Auf Webseiten geht das schließlich auch.

Ein tolles Buch - sehr zu empfehlen. Lesen!

Freitag, 1. April 2022

Kurt Krömer: Du darfst nicht alles glauben, was du denkst

Meine Depression

Dass das Buch, welches mit seinem auf ein Heinz-Erhardt-Zitat anspielenden Titel so lustig daherkommt, alles Andere als lustig ist, ahnt man spätestens beim Untertitel. Alexander Bojcan, Krömers alter Ego, ist durch das finstere Tal der Depression gewandert, und in diesem Buch spricht er offen darüber. Er tut das nicht, um Aufmerksamkeit zu erregen oder um sich besserwisserisch als Ratgeber aufzuspielen. Er tut es, weil er sich mit dieser stark stigmatisierenden Krankheit nicht mehr verstecken will und weil er andere Erkrankte dazu ermutigen will, es ihm gleichzutun. Wozu soll das gut sein? Nun - nur wer sich wegen dieses Gebrechens nicht mehr verstecken muss, der hat den Mut sich auch dazu zu bekennen und sich behandeln zu lassen. Das Bundesgesundheitsministerium schreibt dazu: „16 bis 20 von 100 Menschen erkranken irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung (Dysthymie).“ Man stelle sich bitte dieses Leid einmal vor! Und kaum einer der Betroffenen traut sich aus der Deckung oder weiß überhaupt davon, was ihm oder ihr fehlt. Wir wissen einfach zu wenig darüber und so bleiben viel zu viele Depressionen unbehandelt, so mancher an Depressionen leidende bleibt mit seinen zermürbenden Qualen alleine. Das muss anders werden. Und deshalb ist das ein sehr, sehr wichtiges Buch!

Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

Dienstag, 28. Dezember 2021

Richard Kaufmann: Landreisen

Reisen ohne Ziel

Ich bin schon als Kind gerne verreist: Auf dem Rücksitz des Geschäftswagens meines Großvaters oder zusammen mit der Oma im Abteilwagen des TEE. Da konnte man der Landschaft beim Vorbeiziehen zuschauen. Wenn es doch mal langweilig wurde, wurde gespielt oder gelesen: Kinderbücher und das Lustige Taschenbuch. Zumindest im Zug. Im Auto ist mir beim Lesen immer schlecht geworden. Später sind wir dann auch geflogen. Das war ein Abenteuer! Die Piloten galten in ihren schmucken Uniformen noch als Superstars der Lüfte, die Stewardessen waren so etwas wie Supermodels, nur näher. Da habe ich mir schon als Sechsjähriger die Augen aus dem Kopf gestaunt, so schön waren die. 

Mit zunehmender Häufigkeit des Fliegens nahm die Größe der überbrückten Entfernungen zu und seine Faszination ab. Waren es zunächst nur kleine Hüpfer von Düsseldorf nach Zürich - man landete immerhin in der gleichen Klima- und Zeitzone, in der man auch gestartet war - so wurden es später größere Sprünge nach London, Athen oder Istanbul, nach Neapel, Amman oder nach Reykjavik. Mit zunehmender Entfernung der Ziele störte mich mehr und mehr, dass der Körper nach der Landung zwar angekommen, die Seele aber noch Zuhause war. In Arecife noch darüber nachzudenken, ob man in Zwickau der Herd ausgemacht hat, oder in Amman, ob man den Katzen in Remagen zum Abschied noch eine Dose Futter hingestellt hat, fühlt sich merkwürdig an und stört das Erkunden bisher unbekannter Kulturen und Landschaften. Es geht einfach zu schnell mit dem Flieger. 

So waren meine aufregendsten Reisen (gemeint sind jetzt die Bewegungen zum Reiseziel hin oder vom Reiseziel wieder zu einem vorher angepeilten Fixpunkt) immer die, bei denen mir die eigentliche Fahrt die Zeit gelassen hat, mich zu akklimatisieren und mich auf das Reiseziel einzustellen (bzw. davon Abschied zu nehmen). In meinem Kopf sehe ich mich mit einem Freund zusammen in das damals noch eingemauerte Berlin reisen. Im Winter und per Anhalter. Das war eine Reise! Da haben wir alleine auf der Hinfahrt mehr Leute kennengelernt und Abenteuer überstanden, als manche Menschen während einer vierwöchigen Kreuzfahrt. Unvergessen auch die Busreise von Athen zu einer Kleinstadt auf der Pelepones: Wir sind einfach morgens am Busbahnhof aufgeschlagen, und haben den ersten Bus genommen, für den wir noch drei Karten ergattern konnten. Ausgestiegen sind wir jeweils an der Endhaltestelle. Dort haben wir uns ein Zimmer gesucht und einen oder zwei Tage verbracht. Dann ging es wieder weiter mit dem Bus, kreuz und quer über die Halbinsel. So habe wir für eine kurze Entfernung fast 14 Tage benötigt, aber was für eine Reise!

Geflogen bin ich dann privat zunehmend widerwillig und schließlich überhaupt nicht mehr. Vor ein paar Jahren musste ich noch einmal aus dienstlichen Gründen nach Barcelona fliegen, aber das hat alle meine Vorurteile bestätigt und sogar noch verstärkt. Ich werde nie wieder fliegen. Schon aus ökologischen Gründen.

Viele meiner KollegInnen werden nach ihrer Pensionierung zu Weltenbummlern. Endlich können Reiseangebote außerhalb der hochpreisigen Schulferien gebucht werden, endlich kann man die Sehnsuchtsorte besuchen, die einem bisher schlicht zu teuer waren. Und auch mich juckt es, nach dem Eintritt in den Ruhestand noch ein paar Orte zu besuchen und Routen zu absolvieren, die ich immer schon sehen oder wiedersehen wollte. Mein geliebtes Berlin zum Beispiel habe ich das letzte Mal vier Wochen vor dem Mauerfall besucht und dann sträflich vernachlässigt. Nach Hamburg zieht es mich. Nach Rom oder Wien. Und warum nicht einfach mal nach Düsseldorf? Die Schauinsland-Straße hinter Freiburg soll einmal die Reifen meines Moppeds schmecken. Die alte Gotthard-Passstraße ruft nach mir. Am Freddie-Mercury-Denkmal in Montreux möchte ich einen Blumenstrauß hinterlassen. Das Ahrtal wiedersehen - meine alte Heimat. 

Und genau da setzt das Buch von Herrn Kaufmann an: Es ist ein flammendes Plädoyer für das Reisen ohne Flugzeug und Zeitdruck. Für eine Art zu Reisen, bei der die Strecke genau so wichtig ist, wie der Aufenthalt am Ende der Strecke. Vielleicht sogar noch wichtiger. Es ist wunderschön geschrieben - der Mann kann mit Sprache umgehen - und sehr persönlich. Es ist kein Reiseführer, aber es führt einen wieder an eine Art des Reisens heran, die den Namen verdient.


Ein tolles Buch! Unbedingt lesen und zwar sofort!