Montag, 9. Mai 2022

Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof

Die Biografie

Über dieses 2009 erschienene Buch habe ich irgendwo gelesen. Anders als es bei älterem Lesestoff sonst der Fall ist, habe ich es nicht gebraucht besorgt, sondern von meinem Bücherdealer ordentlich beim Verlag bestellen lassen. Ich glaubte, dass ich der Autorin noch etwas schulde. Am Anfang der 80er bin ich oft per Anhalter gefahren. Dabei hat mich in der Nähe von Bonn einmal ein Pärchen mitgenommen, in dessen weiblichem Teil ich Frau Ditfurth zu erkennen glaubte. Ihren Vater Hoimar von Ditfurth bewunderte ich zu diesem Zeitpunkt wegen seiner wegweisenden Wissenschaftssendung „Querschnitte“ schon seit einem halben Jahrzehnt, sie war mir als Gründungsmitglied dieser neuen Partei „Die Grünen“ inzwischen aber ebenfalls vertraut aus den Medien. Naturgemäß sieht man als Tramper die Fahrerin und den Beifahrer nur von hinten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es war. Sie meckerte noch ein Wenig, weil wir an einer denkbar ungünstigen Stelle den Daumen rausgehalten hatten, aber sie hat mich und meinen Freund mitgenommen und ordnungsgemäß an einer Bushaltestelle in der Nähe des Kanzleramts wieder rausgelassen. Wir waren quasi starr vor Ehrfurcht. Diese Schuld ist jetzt beglichen! So sieht’s aus, Frau Ditfurth.

Ich schweife schon wieder ab, es soll doch um dieses gute Buch gehen. An dessen Ende findet sich ein dicker Anhang mit dedizierten Quellennachweisen. Alle Aussagen in diesem Buch lassen sich belegen, so versichert die Autorin, auch wenn rund 1000 der verwendeten Quellen privat bleiben müssen und nicht im gedruckten Quellenverzeichnis zu finden sind. Es wundert mich nicht, dass hier das Ergebnis von sechs Jahren Recherchearbeit vor mir liegen. Das ist wichtig, denn die Autorin macht handfeste Aussagen nicht nur zu den objektiv dokumentierten Handlungen der Frau Meinhof, sie stellt auch gut begründbare Thesen zu ihrer Motivation auf. Es ist also ein Buch, welches nicht nur die Biografie der ehemaligen Top-Terroristin nachzeichnet, sondern auch erklärt wie es dazu kam. 

Und darum geht es. Das Buch soll nicht nur den Lebensweg von Frau Meinhof und die Ereignisse um die Studentenbewegung der späten 60er Jahre beschreiben, es soll auch erklären und deuten. So beginnt das Werk mit der Kindheit und den Ereignissen, die einen Menschen schon früh prägen und beeinflussen. Dadurch werden spätere Entscheidungen verständlicher, bestimmte Haltungen überhaupt erst plausibel. Die Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit, frühe Erfahrungen mit dem anderen und dem eigenen Geschlecht (bzw. die Unterdrückung dieser Erfahrungen) oder das Aufwachsen in einer Bundesrepublik, deren Repräsentanten teilweise noch das Blut aus der Nazidiktatur an den Händen klebte. Diese Liste der von der Autorin beleuchteten Einflussfaktoren ließe sich lange fortführen.

Wer immer schon einmal wissen wollte, warum eine junge, intelligente, gebildete, beruflich erfolgreiche und durchaus sympathische Frau zu einer der meist gesuchten und meist gejagten Personen der Zeitgeschichte werden konnte, zu einer Person, die schließlich von ihren Häschern systematisch zerbrochen und zerstört wurde: Mit dieser Biografie werden viele Rätsel gelöst und viele Fragen beantwortet. In sachlichem, fast dokumentarischen Stil schildert Frau Ditfurth das Leben und Sterben von Ulrike Meinhof und rührt trotz ihrer nüchternen Sprache immer wieder zu Tränen. 

Ein herausragendes Buch. Lesen, und zwar unbedingt und sofort!

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