Mittwoch, 12. Mai 2010

Lilo Beil: Schattenzeit Geschichten

Dieses kleine Bändchen enthält neunzehn Kurzgeschichten, die im Zusammenhang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte stehen. Erzählt wird aus der Perspektive von Kindern bzw. in Form von Kindheitserinnerungen: Schulkameradinnen, die plötzlich verschwinden, Ladengeschäfte, in denen man nicht mehr einkaufen darf oder der jüdische Klavierlehrer, der eines Tages mit seiner Frau zusammen in den Freitod geht, um dem Grauen der Lager zu entgehen. Im zweiten Teil finden dann aber auch Geschichten von Annäherung und Versöhnung ihren Platz.



Auch wenn ich an anderer Stelle behauptet habe, dass Kurzgeschichten nicht mein Ding sind: Diese sind es definitiv. Ich habe die Schattenzeit-Geschichten während meines inzwischen traditionellen sonntäglichen Frühstücksrituals auf dem Neustadter Marktplatz begonnen. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen, die Menschen lächelten, wie sie es in Neustadt nun einmal tun wenn der erste schöne Frühlingstag auf den Marktplatz einlädt. Ich wusste ja noch nicht, welches Buch ich da in den Händen hielt. Ich hatte mit Kriminalgeschichten gerechnet und mit angenehmem Krimigruseln. Schon nach wenigen Seiten war ich aber derart in die beklemmende Stimmung ihrer Geschichten abgetaucht, dass ich vor meinem geistigen Auge die wunderschön restaurierten Häuserfassaden Neustadts mit den historischen Fotos aus den Büchern des Herrn Berzel verglich, die in meinem Kopf gespeichert sind. Da hängt dann über dem Handyladen eben nicht das farbenfrohe Logo eines Funknetzbetreibers, sondern eine Holztafel, auf der in schnörkeligen Buchstaben "Colonialwaren" geschrieben steht. Mir kam es fast so vor, als würde sich meine Umgebung in Sepiatönen einfärben, als reise ich in einer Zeitmaschine.

Wer wie ich in den sechziger Jahren mit einem derart vorbelasteten Vornamen getauft wurde, der setzt sich frühzeitig und intensiv mit der braunen Vergangenheit Deutschlands auseinander. In dieser Beziehung habe ich ein recht frühes Ende der Kindheit hinter mir. Auch wenn das eigentliche Grauen des Völkermordes in ihrem Buch gar nicht direkt thematisiert wird, so weiß ich einfach genug, dass auch Andeutungen und leise Anspielungen ausreichen, um in mir eine bestimmte Saite zum Klingen zu bringen. Als dann noch eine Wandergruppe mit schweren Bergschuhen vorbei ging - wohl nur zufällig im Gleichschritt - hatte ich zu den Bildern im Kopf auch noch die passende Geräuschkulisse. Ich musste das Buch weglegen und habe es später zuhause fertig gelesen.

Ich wünsche diesem tollen Buch noch viele Leser.

1 Kommentar:

  1. Äußerst lesensenswert, sensibel und spannend geschrieben auf hohem Niveau.

    Leider ist das Buch im Verlag nicht mehr erhältlich ("vergriffen"), sondern nur direkt bei der Autorin oder in den gängigen Bücher-Internet-Portalen. Eine Neuauflage ist angedacht, und man darf dem neuen Verlag der Autorin Lilo Beil nur wünschen, dass er sich für die Herausgabe entscheidet.

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